Nichts bleibt für die Ewigkeit
Gebt mir ein H!
Das sind 34 Piktogramme und das wäre alles in Jahren, was mir an Restleben zu Verfügung stehen würde, wenn es „gut“ im Sinne von „üblich“ laufen würde. Selbst in Monaten ist dies gut darstellbar und erschreckend überschaubar.
Wenn Sie wie ich um die 40 sind: That‘s it. Plusminus sind das alle Monate des Restes Ihres kurzen Daseins, bevor der Deckel zuklappt. Und da darf nix dazwischenkommen. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit hoch an Krebs zu erkranken, einen Herzinfarkt zu erleiden oder einen Schlaganfall. Im Angebot sind auch weitere häufig anzutreffende Unpässlichkeiten, wie zum Beispiel ein schwerer Unfall, Demenz, Parkinson, COPD, MS oder, etwas seltener, ALS. Unverhofft kommt oft. Eine bewusste Nutzung dieser wenigen Zeit macht also durchaus Sinn. Und falls Sie bis jetzt das Gefühl hatten, noch ewig Zeit zu haben, ein guter Mensch zu werden oder vielleicht auch zu sein, seien Sie versichert, diese Ewigkeit währt nur sehr kurz. Gesund zu sein ist keinesfalls normal und sollte mehr mit Dankbarkeit und Zufriedenheit einhergehen. Und wenn wir krank sind, sollten wir nicht zu sehr hadern oder unzufrieden sein, denn es gehört zum Leben dazu.
Sollten Sie sich fragen, warum ein Teil der Kalender auf der Grafik dunkler ist: Die Menge der dunklen Kalender entspricht der Anzahl an TAGEN, welche mir persönlich mit meiner Erkrankung noch bleiben, bis ich das Ende der Fahnenstange erreiche, zumindest statistisch. Die Idee der Visualisierung von Lebenszeit ist nicht von mir. Tim Urban hat dies bereits vor längerem getan. Als ich seine Darstellungen 2015 sah, war ich sehr beeindruckt und ich denke bis heute oft darüber nach. Falls Sie das interessiert, hier gibt’s mehr davon: http://waitbutwhy.com/2015/12/the-tail-end.html
Es Ist erstaunlich, wie schnell die Zeit vergeht. Sie vergeht tatsächlich nicht schneller oder langsamer, sie rinnt immer gleichschnell davon. Wobei der die Wortwahl „davon“ nach meinem Empfinden negativ gewählt ist. Sie fließt. Auch nicht optimal, aber ich denke, sie wissen, was ich meine. Fließen gefällt mir deshalb besser, weil wir eigentlich konstant in der Vergangenheit leben. Würden wir die archivierte, nicht mehr veränderbare Zeit betrauern, würden wir unser Dasein betrauern.
Das Hier und Jetzt ist bereits jetzt Vergangenheit. Jetzt auch. Jetzt auch, und zack, schon wieder vorbei und ich habe Geschichte geschrieben. Zumindest mal meine eigene. Es gibt all diese Momente nur noch in meiner Erinnerung und egal wie sehr ich es mir wünsche, ich kann den Moment nicht festhalten. Allerdings kann ich an Erinnerungen zehren. So ich den welche mit Nährwert im Archiv hab.
Die Zeit kann weder beschleunigt noch verlangsamt werden. Es kommt somit auf die Inhalte an. Blicke ich zurück, kommt es mir gefühlt so vor, als hätte mir früher mehr Zeit zur Verfügung gestanden. Der Tag hatte mehr Stunden, die Sommer waren länger und so weiter. Dies gilt insbesondere für positive Erinnerungen. Dies finde ich erstaunlich, selbst wenn das wissenschaftlich bestimmt ein alter Hut und einfach zu erklären ist. Natürlich beschummelt mich mein Hirn mit meinen Erinnerungen.
Wenn ich allerdings Erinnerungen vergleiche, so ist festzustellen, dass ich früher tatsächlich „mehr“ Zeit hatte. Mehr Zeit für mir wichtige Lebensinhalte. Dies mag natürlich zum Teil der relativ unbeschwerten Jugend geschuldet sein und den zunehmenden Verpflichtungen im Laufe eines Lebens. Dennoch glaube ich, dass wir uns als Gesellschaft geändert haben, und zwar nicht nur zum Guten. Obwohl unser Leben heute prall gefüllt ist und wir viel hochtouriger unsere Tage gestalten als früher, haben wir gefühlt weniger Zeit. Wenn es doch auf Inhalte ankommt, dann müsste doch vieles besser sein. Messengerdienste, SMS, Facebook, Instagram und hast du nicht gesehen. Unzählige Fernsehprogramme, Netflix, Amazon, Disney und Konsorten, Freizeitangebote en masse, Internet, Datingportale, Spielekonsolen und so weiter. Das Angebot ist in den letzten Jahren explodiert und wir konsumieren und schlucken den ganzen Konsummüll wie Junkies, freiwillig oder unfreiwillig. Eine Stunde kein Smartphone zu benutzen, ohne dabei RTL2 oder „Promi Big Brother“ zu schauen, ist für manche wie ein kalter Entzug und fast unzumutbar. Ich musste gerade recherchieren, wie die Sendung hieß, prompt schlug mein Pulsoximeter Alarm, weil ich kurz vor Kammerflimmern war. Gebt uns ein Niveau, wir kommen drunter. Wir fluten uns mit Informationen, werden aber nicht schlauer, gefühlt eher dümmer, niveauloser und oberflächlicher. Wir wollen alles haben, nix dafür leisten, notfalls sogar auf Kosten Anderer. Wenn ich sehe, wie Egoismus, Ausbeutung, Gier, Verantwortungslosigkeit, Intoleranz, Rassismus und Dummheit salonfähig werden, kommt mir ehrlich gesagt, entschuldigen Sie bitte die Wortwahl, das kalte Kotzen. Fluchen befreit, sollte ich vielleicht öfters tun. Ich schweife wieder völlig ab, pardon.
Es kommt somit anscheinend nicht auf die reine Menge an Inhalten an, sondern auf ein ausgewogenes Maß an Quantität und Qualität. Im Bewusstsein der Endlichkeit versuche ich also, das Leben unserer Familie und mein eigenes mit positiven Inhalten zu füllen, woran ich des Öfteren scheitere, zumindest gemessen an meiner Erwartungshaltung. Häufig fehlt die Kraft und dann siegt der innere Schweinebär. Körperlich geht es mir gut. Zumindest unter den gegebenen Umständen. Muskulär bin ich weit entfernt von der Normleistung. Damit gehen ein paar Herausforderungen einher. Dies ist eine schöne Umschreibung meiner Lage, wie ich finde. Allerdings trifft diese Beschreibung auch auf meinen Zustand vor fünf Jahren zu. Ich war damals 100 Kilo leicht, hatte meine Muskeln hinter reichlich Fett versteckt und wäre wahrscheinlich an den sportlichen Herausforderungen des Sportabzeichens gescheitert. Nun bin ich rund 40 Kilo leichter und habe nix mehr zum Verstecken. Ich habe fast keine Muskeln mehr, und leider habe ich auch kein Fett mehr. Damals wollte ich unbedingt abnehmen, aus vorwiegend optischen Gründen, und heute wäre ich froh, wenn ich die Figur und Fitness von damals hätte.
Somit müsste ich mein Befinden unverblümt wie folgt beschreiben: Ich bin mittlerweile körperlich völlig platt, fertig, müde und kraftlos, aber gut gelaunt, frohen Mutes, wachen Geistes, hoffnungsvoll und lebenslustig. Aber das ist körperlich bei weitem noch nicht das Ende des Zerfalls bei ALS und im Vergleich zu anderen Erkrankten geht es mir gut. Insofern freue ich mich über diese Tatsache, wohlwissend, dass sich das schnell ändern kann.
Ich erwarte das Wunder. Und bis dahin wird gelebt und versucht, ein möglichst normales Leben zu führen. Und ich freue mich hier zu sein, dabei zu sein und selbstbestimmt leben zu dürfen. Ich liebe meine Familie und das Leben. Wir haben mit viel Disziplin, gutem Willen, Verantwortungsbewusstsein, Humor und insbesondere Liebe einen Weg für uns gefunden, den wir tapfer beschreiten und der uns mehr als lebenswert erscheint. Häufig kommt die Frage, wie wir das geschafft haben, was der Trick, was unser Geheimrezept ist. Ich kann und will darauf keine Antwort geben, weil ich der Meinung bin, dass dies eine individuelle Sache ist, die sehr komplex ist. Ein Pauschalrezept, welches jedermanns Geschmack trifft, gibt es meiner Auffassung hier nicht. Es war und ist Fleißarbeit. Selbst die Liebe ist „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ laut Evje van Dampen, dem Alter Ego von Herrn Kerkeling, womit sie wohl recht hat.
Unser Weg ist zweifellos steinig und holprig, das Wetter schlägt schnell um und die Bedingungen werden zunehmend rauer und lebensfeindlicher. Das Leben hat nun Expeditionscharakter. Wir machen los und begeben uns in bis dato unerschlossene Gebiete. Unser Expeditionsteam an Pflegeprofis, Therapeuten, Ärzten, vielen Helfern und Unterstützern begleitet uns unerschrocken, wofür wir zutiefst dankbar sind. Mit einer Pauschalreise durchs Leben hat dies nichts mehr zu tun. Keine Reiserücktrittsversicherung, keine Reiseleitung, keine Routine, kein Bordentertainment, kein Catering, keine Animateure. Nur volles Risiko bei voller Verantwortung und der Möglichkeit Einzigartiges erleben zu dürfen. Backpacking mit Extralast für Lebenslustige. Auch unter diesen widrigen Bedingungen ist ein zufriedenes und weitestgehend glückliches Dasein möglich. Die Inughuit werden mir sicherlich zustimmen, da gibt’s im Winter bei minus 30 Grad wahrscheinlich Hitzefrei. Es kommt nicht darauf an, wie man die Waage tariert, um sich dann selbst zu belügen. Das sind nur Zahlen, Normen und Vergleiche. Mein Gefühl, mein Herz und mein Bauch entscheiden über mein Glücklichsein und Wohlbefinden, nicht mein Verstand, eine Skala, der Vergleich, Statistiken oder Prognosen.
Man muss sich das nochmal vor Augen halten: Außer Muskeln fehlt mir nix. Prinzipiell bin ich kerngesund. Ich habe fantastische Blutwerte, Ohren wie ein Luchs, gesunde Beißer, den Ruhepuls eines Apnoetauchers, Reflexe wie Bruce Lee nach einer Reanimationsdosis Adrenalin und die Sinneswahrnehmung eines Ninjas. Wobei das meine Frau mit meinem Hören und Wahrnehmen etwas anders sieht. Ich erkläre das stets mit selektiver Wahrnehmung. Wenn ich den Filter einschalte, trennt dieser archivierungswürdige Informationen vom Rest der angebotenen Informationen, welche nach kürzester Zeit unwiderruflich vernichtet werden. Je nach Tagesform siebt der Filter, angeblich(!), relevante Informationen von epochaler Tragweite fälschlicherweise aus. Ich gebe zu, ALS bringt nicht nur Schlechtes mit, sondern auch ein umfangreiches Major-Feature-Upgrade meiner selektiven Wahrnehmung verbunden mit vielen neuen großartigen Filtermöglichkeiten.
Die Krankheit bestimmt nicht mehr gänzlich unseren Alltag und unser Denken, sondern sie grenzt lediglich unsere Möglichkeiten ein. Innerhalb dieses Rahmens herrscht normaler Alltag, normales Glück und normaler Kummer. Wenn der Hund mit nassen Pfoten auf die Couch hüpft, ärgert uns das nach wie vor. Wir streiten uns auch über Banalitäten und heulen bei Tierdokus, wir lachen auch mal, wenn Papa denn Fruchtbrei durch die Wohnung niest und machen auch mal Witze über meine missliche Lage. Allerdings hat meine Empathie die Frequenzen reduziert, auf der sie erreichbar ist. Wenn Pauschaltouristen klagen, dass sie sich beim Limbo mit drei Mojitos intus den kleinen Zeh verknackst haben und das ein Weltuntergang ist, weil sie dann bei der morgendlichen Wassergymnastik mit dem süßen Animateur nur unter unvorstellbaren Höllenqualen teilnehmen können, die veganen Schnitzel am Buffet nicht so lecker sind und keiner mehr Stress hat als sie, weil das Animationsprogramm des Clubs so eng getaktet ist, greift mein Filter und der Lotuseffekt setzt ein. Aber zurück zu meinem Befinden.
Es gibt sogar die Momente, in denen ich komplett vergesse, dass ich keine Muskeln mehr habe und auch nicht mehr sprechen kann. So zum Beispiel, wenn meine Pflegekraft versucht ein Glas mit Drehverschluss zu öffnen, aber die Kraft nicht reicht, um den Deckel zu bezwingen. Da ertappe ich mich jedes Mal, dass ich sagen will „Ich helfe dir, gib mir mal das Glas her!“, weil ich in der Sekunde der sicheren Überzeugung bin, dass ich das locker öffnen kann. Oder als ich Spülung im Mund hatte und meine Pflegekraft mir eine Frage stellte, dachte ich: „Mist, jetzt kann ich nicht sprechen, weil ich den Mund voll Spülung habe“. Kurz darauf fiel mir dann wieder ein, dass ich ja mit leerem Mund nicht mehr sprechen kann und mein augengesteuerter Sprachcomputer auch mit vollem Mund funktioniert. Dies machte mich nicht traurig oder garstig, es erheiterte mich ungemein. Ich mag diese Momente, sie fühlen sich erfrischend normal an.
Gelegentlich überschätze ich allerdings meine Leistungsfähigkeit, übernehme mich und muss mich daran erinnern, dass ich ALS im Gepäck habe und mit diesem Marschgepäck etwas langsamer bin als früher. Auf dem Weg des Lebens ist das aber egal, denn hier ist der Weg das Ziel. Und solange es mir möglich ist, will ich mich an den schönen Passagen erfreuen und die schattigen nicht über Maß würdigen. Die Herausforderungen sind nun mal da, ob ich mich darüber aufrege oder nicht. Es braucht Lösungen. Und was sich jetzt nicht lösen lässt, kommt zusammen mit etwas Optimismus ins Gepäck und wird möglichst klaglos mitgeführt. Ich bin bestrebt das Optimum zu erreichen und ich lebe zufrieden mit dem Leistbaren, meinem Unvermögen und meiner Fehlbarkeit.
Vielleicht liegt meine reduzierte BS-Leistung auch daran, dass ich schon ein paar Kilometer auf dem Tacho habe und ich nun stramm Richtung 50 Lenze marschiere. Eigentlich bin ich schon lange ein Oldtimer, zumindest laut Definition, und erfülle fast alle Bedingungen für ein H-Kennzeichen. „Das Fahrzeug wurde vor mindestens 30 Jahren in den Verkehr gebracht.“ – Baujahr 1978, erfüllt. „Alle Kfz-Hauptbaugruppen müssen dem Originalzustand entsprechen.“ – keine Tattoos und keine Piercings; erfüllt. „Eventuelle Änderungen und Umbauten müssen zeittypisch sein.“ – Bart, Schnurrbart, Scheitel und Brille; erfüllt. Strittig ist lediglich die Hauptuntersuchung. Ich als Optimist führe als Hauptargument an, dass ich „verkehrssicher“ bin, der prüfende Pessimist argumentiert dagegen mit „gravierenden Mängeln“. Ansichtssache.
24. Juli 2015




