Herrengedeck
Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen.
Edaravone. Aktuell bekomme ich wieder Infusionen. Edaravone ist ein Medikament aus Japan, welches letztes Jahr auch in den USA zur Behandlung von ALS-Patienten zugelassen wurde. In der EU und daher auch in Deutschland ist das Mittel bislang nicht zugelassen. Es besteht allerdings die Möglichkeit, Edaravone über eine internationale Apotheke zu bestellen. Die Kostenübernahme kann bei der Krankenkasse beantragt werden, ist nämlich kein Schnäppchen. Edaravone ist nach Riluzol weltweit das zweite Medikament zur Behandlung der amyotrophen Lateralsklerose. Riluzol kann das Leben im Schnitt um drei Monate verlängern. Drei Monate, da geht ein Raunen über die Ränge und die Menge erhebt sich zur La-Ola. Drei Monate mehr, na Gott sei Dank, und ich dachte, es wäre alles am Arsch. Dann ist ja alles entspannt.
Mit Edaravone kommt nun ein weiteres Medikament dazu, welches den Verlauf verlangsamen soll. Ich will sie nicht mit Studiendetails nerven, aber ob es das Überleben verlängert, ist noch gar nicht sicher. Hört sich widersprüchlich an, ist aber so. Des Weiteren wurden in Deutschland Kriterien beschlossen, unter denen der Einsatz empfohlen wird. Die aktuelle Studienlage zeigt, dass Edaravone nur bei einer Untergruppe von ALS-Patienten wirkt, die bestimmte klinische Merkmale aufweisen. Somit wird es auch nur für diese Gruppe empfohlen. Ob es eventuell in der Langzeitbehandlung auch bei anderen Gruppen wirkt, muss erst getestet werden. Zwei Kriterien sind unter anderem ein Lungenvolumen über 80 % und eine Erkrankungsdauer unter zwei Jahren. Zum Glück ist es nur eine Handlungsempfehlung. Jeder, der da nicht reinpasst, hat Pech gehabt - und das, obwohl bisher nicht untersucht ist, ob Edaravone über lange Zeit nicht doch einen positiven Effekt hat, auch bei Patienten, die diese Vorgaben nicht erfüllen. Solche Handlungsempfehlungen werden dann veröffentlicht und rauben vielen Betroffenen die Hoffnung. Es hätte vielleicht auch gereicht, die Fakten aus der Studie zusammenzufassen und den Krankenkassen keinen Elfmeter für die Ablehnung von Kostenübernahmen zu schenken. Eine taktische Meisterleistung.
Bei mir wurden die Kosten anstandslos übernommen, dafür bin ich meiner Krankenkasse sehr dankbar. Die Behandlung läuft planmäßig so ab, dass 14 Tage infundiert werden, Dauer jeweils eine Stunde, darauf folgen 14 Tage Pause und dann geht’s von vorn los. Ein nicht unbeachtlicher Aufwand. Infundiert wird beim Arzt oder im Krankenhaus, da muss man ja auch erst mal hin und an die Reihe kommen.
Aktuell laufen wieder Infusionen bei mir und ich vertrage sie gut. Ob sie wirken, ist nur schwer zu sagen, da ich keinen Vergleich habe, wie es ohne wäre. Wir sind hoffnungsvoll, wenn es auch das eigentliche Problem nicht löst. Aber vielleicht verschafft es Zeit für ein Wunder, wir glauben fest daran. Wir haben uns entschlossen, erbitterten Widerstand zu leisten, Aufgeben ist keine Option. Im Besonderen fühle ich mich meinem Sohn gegenüber verpflichtet. Zu kämpfen, durchzuhalten, zu glauben. Dies bedeutet in aller Konsequenz künstliche Beatmung und Ernährung, im schlimmsten Fall Locked-in-Syndrom.
Completly locked in, so der Fachterminus, bedeutet, vollständige Lähmung bei wachem Bewusstsein. Und vollständig, meint vollständig. Keine Bewegung der Augen, der Augenlider oder sonstige Kleinstbewegungen der willkürlichen Muskulatur sind mehr möglich. Da is nix mit Kratzen, wenn es mal juckt oder die gottverdammten Stechmücken davon abhalten, Bed and Breakfast zu spielen. Denn das Fühlen, Schmecken, Hören und die Wahrnehmung sind gegeben. Das Gehirn arbeitet wie bei einem Gesunden. Außer Muskeln fehlt nix. Du bist also da, am Leben, dabei, geliebt. Ok, es wird schwer, Sachen angemessen auszudiskutieren. Das bringt mich ja heute schon bisweilen auf die Palme. Das gesprochene Wort war mein schärfstes Schwert, und nun bin ich dazu verdammt, Situationen kommentarlos geschehen zu lassen, die einer verbalen Intervention würdig wären. Vielleicht empfindet mein Umfeld diesen Umstand auch gelegentlich als angenehm. Aber ich empfinde es als beruhigend, dass mir nur die Muskeln fehlen, aber mein Geist hellwach ist. Ich fühle mich auch nicht in dem Maße krank, wie die Diagnose und mein Zustand aus äußerlicher Sicht vermuten lassen.
Inzwischen ist es einem Neurowissenschaftler, Niels Birbaumer, gelungen, mit Locked in Patienten zu kommunizieren. Bevor ich ins Detail gehe, eine wichtige Information vorab. Gefragt nach ihrer Lebensqualität, antworten die Patienten überwiegend „sehr gut“. Der Knaller,
„Weshalb diese Menschen nicht todunglück sind? Birbaumer sieht als wichtigsten Faktor, dass die befragten Menschen in der Familie leben und gepflegt werden. Und die Menschen, von denen sie umgeben sind, sind positiv und freundlich zu ihnen. Zudem vertritt er die Hypothese, dass das Gehirn durch die abgeschlafften und dadurch entspannten Muskeln das Signal erhält: Alles entspannt, hier kann nichts passieren.“
Das Prinzip der Kommunikation ist einfach und schnell erklärt. Es kommt eine Maske auf den Kopf, diese misst die Durchblutung. Wenn ein Mensch Ja denkt, wird das Hirn anders durchblutet, als wenn er Nein denkt. Jetzt noch ein paar IT-Spezis, ein paar intelligente Fragen und fertig ist die Laube. Es läuft, Freunde der Sonne. Der Bär ist regungslos, doch sein Geist ist lebendig und willig. Lebenswert.
Wenn also Kommunikation gegeben ist, nehmen wir aktiv am Leben teil. Selbst ohne Kommunikation, als reiner Empfänger von Informationen, scheint es für eine sehr gute Bewertung der Lebensqualität zu reichen. Jetzt ist die beschriebene Kommunikation mit Maske ziemlich rudimentär, beschränkt auf die Beantwortung von Ja-Nein-Fragen. Der Perfektionist in mir fragt sich nun, was, wenn die Fragen scheiße sind? Eine Katastrophe, ich rege mich dann sicherlich fürchterlich auf und kann nicht ausdiskutieren, wie man denn so dämliche Fragen stellen kann und keine intelligenten. Aus dieser Überlegung lassen sich schon zwei Fragen für die Frageliste ableiten: Regst Du Dich auf? Und: Bist Du ordinär am Fluchen?
Vielleicht macht es Sinn, sich, solange es noch geht, Fragen zu überlegen, die einem wichtig erscheinen. Quasi das Reisegepäck klarmachen für die Reise in eine besondere Welt. Survivaltrip. Ausrüstung checken, Packlistenerstellen, vielleicht mal zwei Tage das Werkzeug testen, solange man noch was einpacken kann. Packlisten erstellen für alle, die auch auf die Reise gehen.
Ich muss mal in mich gehen, was mir wichtig erscheint. Hast Du Schmerzen? Geht es Dir gut? Juckt es Dich irgendwo? Oder an Samstagen: Willst Du ein Herrengedeck durch die Magensonde? Ich muss mir dazu mal ein paar Gedanken machen. Aber auch die Reiseplanung sollte eventuell selbst gestaltet werden, zum Beispiel Hörenswürdigkeiten und so. Morgens hätte ich gerne Deutschlandfunk. Am Wochenende, nachmittags, würde ich gerne SR3 hören. Dann ein paar gute Hörbücher, Politik, Autobiografien und etwas zum Laut lachen. Notfalls kann man ja fragen: Willst Du „Qualityland“ hören? Willst Du „Das Feld“ hören? Willst Du „Und Gott sprach: Wir müssen reden“ hören? Willst Du „Flug nach Arras“ hören? Ja, (gerne). Schön, gibt’s nicht als Hörbuch. Und ein paar Wünsche formulieren. Abends erzählen wir „uns“, wie unser Tag war. Der Hund darf ins Bett. Wir kuscheln. Erzähl mir einen guten Witz pro Woche. Nur einen einzigen Witz, aber dafür einen Kracher. Spiel mir keine gute Laune vor, ich merke es ohnehin direkt. Mach einmal im Monat Spießbraten. Ich weiß, Du hasst Spießbraten, weil dann zwei Tage lang „die Bude stinkt“, aber ich liebe den Geruch. Doch halt, Denkfehler, aufgrund der künstlichen Beatmung kommt keine Luft durch die Nase und somit ist das Riechen nicht mehr möglich. Mach den Braten trotzdem. Wir pürieren ihn, geben ihn durch die Sonde und schicken ein schnelles Bier hinterher. Vermutlich muss ich dann aufstoßen und schmecke lecker Braten mit Bier.